FENSTER/ FINESTRE

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FENSTER/ FINESTRE
19
10. Juli 2015
Literatur
MAGAZIN
Siebenundsiebzig Mal geht in diesem Band ein poetisches Fenster auf,
ein jedes gibt den Blick frei auf etwas, was das menschliche Leben ausmacht
FENSTER / FINESTRE
bearbeitet von
Angelika Tauscher
Die Autorin
Das Buch
Elena Spoerl-Vögtli, geboren
1952 in Bellinzona, lebt in Lugano, ist Redaktorin bei der Tageszeitung “La Regione Ticino”,
zuvor Direktionssektretärin bei
der Sozialpsychiatrie des Kantons Tessin sowie Kommunikationsverantwortliche für die
“Schweizer Nationalphonothek”
und für “Memoriav”. Sie veröffentlichte bisher drei Lyrikbände und Erzählungen und erhielt
mehrere
italienische Literaturpreise.
“Fenster/Finestre” ist die erste
Veröffentlichung in deutscher
Sprache.
Fenster/Finestre
“Fenster”: Jedes Gedicht Elena Spoerls ist ein Fenster. Sie öffnen sich auf
Landschaften und Lebensabschnitte, auf das Meer mit seinen Stränden und
Spuren von Füssen und Gedanken, Peripherien, Gärten aus Plastik und Blech,
den heiligen Wald. Sie öffnen sich nach innen, auf Gefühlslandschaften, Erinnerungen, Schatten, Beleidigungen, Wünsche.
Siebenundsiebzig Mal geht in diesem Band ein poetisches Fenster auf, ein jedes gibt den Blick frei auf etwas, was das menschliche Leben ausmacht. Denn
ob es von einer Spinne handelt, einem Fasan, dem Meer oder einem Fluss, vom
Wind oder vom Flughafen, von Orestes oder einem Fischer: Elena Spoerl ruft
ein Moment der Conditio Humana auf, Augenblicke der Wehmut, des Schmerzes, der Vergeblichkeit oder der Hartnäckigkeit und immer wieder der Zerbrechlichkeit dessen, was das Leben erst ausmacht.
Vorwort von Anna Felder – Übersetzt von Janine Zumstein
Zweisprachige Lyrik im Limmat Verlag – ISBN 978-3-85791-756-1
Alpi
öffnen sich, schliessen sich.
Alte si eressero le Alpi
agli albori del continente
e valli profonde lo solcarono.
Alle sind Darsteller
an immer ferneren
immer ähnlicheren Orten,
Poi fu la storia
di cui l’uomo è solo un attimo
dopo sauri e ghiacci.
Sono sue le utopie
le lotte, il progresso.
wo jeder gewesen sein kann,
wo jeder sich selbst werden kann,
oder jemand anderes.
Piscina affollata
Alpen
Gomiti, lombi
sguardi aderenti
(neri o azzurrini)
cuffie metallizzate
costumi olimpionici
Hoch warfen die Alpen sich auf
zu den Anfängen des von tiefen
Tälern durchfurchten Kontinents.
Die Geschichte kam später
der Mensch ist nur ein Augenblick
der Sauriern und Gletschern folgte.
Ihm gehören Utopien,
Kämpfe, Fortschritte.
nelle arterie e nelle vene
dell’acqua clorata
avanti e indietro
nuotano corpi
allineati in corsie
approssimative
in gara con il tempo.
Transito
Sopra si snodava la via delle genti.
Sotto, tre tunnel: binari, asfalto
e presto treni ad alta velocità.
Transit
Oben wand sich der Weg der Völker
Unten drei Tunnel: Geleise, Asphalt
und bald Hochgeschwindigkeitszüge.
Alptransit
Là oggi rode una ruota gigante.
Granito, gneiss, calcare, dolomia
cedono al varco che va scavandosi
nel cuore buio dell’Occidente.
Odi il rombo che alla montagna
divora il ventre? E’ la Terra
che sputa terra. Muta si apre
a un’alba ignota: veloce, capace
E forse vuota.
Neat
Hier nagt heute ein riesiges Rad.
Granit, Gneis, Kalk, Dolomit
weichen dem Durchgang,
der sich ins schwarze Herz des Westens bohrt.
Hörst Du es, das Dröhnen, das das Innere
des Bergs verschlingt? Es ist die Erde,
die Erde spuckt. Stumm öffnet sie sich
einer unbekannten Dämmerung: schnell, weit
Aus den automatischen Türen
hier und dort
strömen sie in Scharen
und vielleicht leer.
viele Niemand
einige Jemand
und endlich der Erwartete
Arrivals,
Du schiebst den Wagen
mit frischen Erinnerungen,
mit Gefühlen beladen.
si apre il sipario
a un nuovo atto.
Dalle porte automatiche
di qua o di là
escono a fiotto
tanti nessuno
qualche qualcuno
e finalmente l’atteso
tu, che spingi il carrello
fresco di ricordi
carico di emozioni.
Arrivals,
der Vorhang öffnet sich
für einen neuen Akt.
Arrivals, departure
battute, atti, interi copioni
si chiudono e si aprono.
Tutti protagonisti
in luoghi sempre più lontani
e sempre meno diversi
dove ognuno può essere stato,
o potrebbe diventare, se stesso
oppure un altro.
Arrivals, Departures,
Wortwechsel, Akte, ganze Drehbücher
M’infilo a mani giunte
acciuga tra i siluri
e sono bracciate taglienti
spruzzi, occhiate sub
boccate d’aria sotto l’ascella
calci schivati, galleggianti
bianchi e rossi
alla riscossa.
Überfülltes Freibad
Ellbogen, Lenden
haftende Blicke
(schwarz und blassblau)
Badekappen blaumetallic
Olympiasiegeranzüge
In den Arterien und Venen
des chlorhaltigen Wassers
schwimmen Körper
hin und zurück
in ungefähre Bahnen gereiht
im Wettkampf gegen die Zeit.
Ich tauche ins Wasser, die Hände gefaltet,
eine Sardelle zwischen Welsen,
schneidende Armschläge
Spritzer, Blicke unter Wasser
Atemzüge unter der Achsel durch
seitliche Fussschläge, Schwimmer
weiss und rot
im Angriff ohne Not.